Wenn du wiederkommst

Mitgutsch, Anna, 2010
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Medienart Buch
ISBN 978-3-630-87327-5
Verfasser Mitgutsch, Anna Wikipedia
Systematik DE - Erzählende Dichtung
Schlagworte Roman, Liebe, Tod, Unabhängigkeit, Tochter, Trauer, Sinn des Lebens, Reflexion, Untreue
Verlag Luchterhand
Ort München
Jahr 2010
Umfang S. 271
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Anna Mitgutsch
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten ;
In ihrer Intensität und Sensibilität außergewöhnliche und berührende Totenklage und zugleich die Geschichte einer tiefen, ambivalenten Liebe. (DR)

"[] während man versucht, sich dem Tod zu nähern, stehlen die Worte und Begriffe sich davon" (S. 261), der Tod ist nicht fassbar, vor ihm verlieren alle Wörter ihren Sinn. Reflexionen über Tod und Trauer, Liebe und Sehnsucht stehen im Zentrum von Anna Mitgutschs bemerkenswertem neuen Roman: Die Ich-Erzählerin trauert um ihren Lebenspartner Jerome, jenem Menschen, dem sie sich zeitlebens trotz der Scheidung vor etlichen Jahren verbunden fühlte. Es war eine ambivalente Liebesbeziehung, überschattet von Missverständnissen, Lügen und Enttäuschungen, aber auch geprägt von unaufhörlichen Versuchen, aneinander festzuhalten. Ihr Wunsch nach Unabhängigkeit und seine Untreue schienen ein Zusammenleben unmöglich zu machen. Kurz vor seinem Tod sprach Jerome jedoch von einem gemeinsamen Altwerden, zeichnete sich "vorsichtig, zwischen den Sätzen, [] ein neues Leben ab, wie das hauchzarte Gewebe eines leuchtenden Altweibersommers, ohne die Forderungen und Ausweichmanöver, die Ungewissheiten und das Warten auf später wie bisher." (S. 7) Doch dann die Todesnachricht, überraschend, unerwartet, unerbittlich.
Dass Jeromes Familie ihr als geschiedener Ehefrau das Recht zu trauern abspricht, verletzt die Erzählende tief und schürt Zweifel in ihr: Was empfand Jerome wirklich für sie? Was war sie ihm? Ihre Totenklage ist ein wütendes Aufbegehren gegen den Tod, ein Erinnern und Abschiednehmen und der verzweifelte Versuch, sich seiner Liebe zu vergewissern. Jerome ist dabei immer stummes Gegenüber, abwesendes Du, er bleibt gegenwärtig, "ist der Zwischenraum zwischen den Dingen, die Zeit zwischen den Minuten." (S. 253)
Es sind vor allem die subtile, poetische Sprache, die feinsinnige, intensive Auseinandersetzung mit Trauer und Schmerz und das sensible Ausloten von Gefühlszuständen, die diesen Roman zu einem besonderen Stück österreichischer Gegenwartsliteratur machen. Das jüdische Trauerjahr bildet den erzählerischen Rahmen dieses nahe gehenden, beklemmenden Romans, der Literaturkreisen und allen Bibliotheken sehr empfohlen werden kann.

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Primus-Heinz Kucher;
Kaddisch für Jerome
Anna Mitgutschs Roman "Wenn du wiederkommst"

Wohltemperiert, das geschäftig kühle wie erinnerungsgesättigte Timbre einer amerikanischen Stadtlandschaft anschlagend, eröffnet Anna Mitgutsch ihren neuen Roman. Und sie eröffnet ihn mit einer schonungslosen Inventur, die bereits nach wenigen Sätzen das verhalten aufkommende Konversationsflair jäh zurücknimmt. Räume, Landschaften, Bilder eines gemeinsamen Lebens verengen sich auf den Fluchtpunkt einer desolaten einsamen Bank in einem Public Garden in Boston, auf den prekären Un-Ort, der mögliche künftige Begegnungen rahmen könnte. Doch Melancholie, verlässlicher Begleiter aller Inventur, will nicht recht aufkommen.
Mitten in einen "angenehm bedeutungslosen Tag hinein" tritt nämlich das Unvorstellbare: eine knappe Nachricht, welche mit erstickter Stimme die erwachsene Tochter überbringt. Jerome, mit dem die Ich-Erzählerin trotz längst erfolgter Scheidung jahrzehntelang zusammen war, mit dem sie eine beständig umschlagende, eine zärtlich hintergründige, von Glücksmomenten wie von Verletzungen durchwachsene Beziehung, jahrelang auch eine Ehe gelebt hatte, ist in einem exquisiten Münzladen Bostons zusammengebrochen und verstorben. Nur wenige Wochen zuvor noch, im Kreis von Freunden, hatten sie noch Möglichkeiten gemeinsamen Lebens, eines Wiederkommens vorsichtig ausgelotet, damit nur das "Gespinst nicht wieder unter dem Gewicht vergangener Kränkungen zerrisse".
Sätze und Überlegungen, die auf Unerfülltes und Verletzendes verweisen, auf eine tiefere, explorationsbedürftige Signatur, die sich unvermutet vor einer bekannten und doch sehr schwierigen Herausforderung gestellt sieht: jener, ein Leben nochmals in die Hand zu nehmen, sich einer geliebten Person und seiner selbst zu vergewissern. Dass hierzu nur mehr das Gedenken möglich ist, Gedenken als Gespräch und Erinnerung auf das "abwesende Du hingespannt", macht die Sache nicht leichter, als dem Ich nicht nur unzuverlässige, ambivalente Bruch-Stücke Vergangenheit auflauern, sondern zunächst Abschieds-Inszenierungen, die es in sich haben. Waren es früher die Eskapaden dieses nicht mehr jugendlichen und doch filouhaften Jerome, dieses ein wenig schrägen Sammlers von Weinetiketten, Münzen, Porzellan, aber auch von Frauen, welche dem Ich zu schaffen gemacht, Vertrauen strapaziert hatten, so hat es nun mit kruden Banalitäten leidig-missliche Erfahrungen zu machen. Zuerst gilt es, der Absurdität der Nachricht, der schroffen Gewalt des Sterbens als einem aus dem Hinterhalt geführten Schlag ins Gesicht zu blicken. Fast ohne Schonfrist steht dann der Status als Hinterbliebene im Kreis seiner Familie mit ihren ostjüdischen Wurzeln sowie in einem Feld von Freund- und Liebschaften zur Verhandlung, ein Status, verstrickt in ein Minenfeld aus Eifersüchteleien, Anmaßungen und Zuschreibungen. Als wäre die Arroganz des Todes, das Nichtwissen um Jeromes letzte Gedanken und Augenblicke sowie der stumme Vorwurf, aus Europa zu spät, nicht einmal mehr ans Spitalbett gekommen zu sein, nicht schon bedrückend genug, bläst ihr auch noch überhebliche, spießige Abweisung durch ihre Ex-Schwägerin entgegen, gesellt sich zur Etikette des Abschiednehmens, zum temporären Auffangen der Trauernden durch die Familie die kühle, ausgrenzende Pragmatik des Notwendigen, eine geschäftige, auf Entsorgen und Umverteilung manisch fokussierte Banalität des Alltags. Ingredienzien für ein hochdramatisches Kammerstück, aber auch Ingredienzien für ein Abgleiten ins Pathetische oder Larmoyante. Beidem entgeht Mitgutsch durch eine präzise Regie und Ordnung des narrativen Materials. Beidem entgeht sie auch durch eine Sprache, die alle Register zieht, die von den ersten Seiten an ein selten gewordenes Ausmaß an Mut, Sicherheit und poetisch präziser Dichte zeigt, das Bewunderung abnötigt und die Autorin vor Fallgruben des Sentimentalen oder gar Sturzflügen bewahrt.
Den ersten drei, von Desorientierung und Erfahrungen des Schocks geprägten Tagen, dem Auftakt zum Roman, folgen klar voneinander abgegrenzte zeitlich definierte Sequenzen: Schiwa, die Trauerwoche, der dreißigtägige Trauermonat, das erste Jahr mit der die Trauerzeit beschließenden Jahrzeit, zeitliche Sequenzen, die dem jüdischen Trauerkalender folgen und damit dem Roman eine zweite wesentliche Signatur einschreiben. Denn es handelt sich hier auch um einen Roman, der eine schon in anderen Büchern der Autorin angelegte Vergewisserungsreflexion im Jüdischen fortschreibt, um gängige Amerikaassoziationen auszufalten und säkulare Alltäglichkeiten in komplexe, kulturell-religiöse Kontexte und Referenzen einzubetten, wozu ein angehängtes Glossar nützliche Hilfestellung bietet.
Der durchaus explosiven Mischung aus inszenierten Konversationsregeln der Trauer und ihrer mitunter zwischen Melancholie, Pathos und angespannter Gereiztheit changierenden Formeln, welche die Ex-Familie, der Ex-Schwager, die Ex-Freundinnen und ein Kreis wohl-meinender, nach der Trauerwoche sich nach und nach aus dem Staub machender Verwandter der Zurückgebliebenen, der Trauernden an den Kopf werfen, entzieht sich das Ich durch ein neugefundenes Einvernehmen mit der gemeinsamen Tochter Ilana. Langsam gehen die beiden Frauen daran, im Haus am Charles River die Hinterlassenschaf 1b99 t zu sichten, das Leben im Ausnahmezustand in den Griff zu bekommen und in langen Gesprächen die aufblitzenden Bilder von Jerome mit jenen der Anderen, der Freunde und Familie zu verrechnen. Staunend müssen sie feststellen, wie viel und wie wenig zugleich er von sich preisgegeben hatte und wie schillernd und verschiedenartig er auf seine nähere Umgebung gewirkt hatte. Den einen nur ein genialer Anwalt, anderen ein unersättlicher Viveur, vielen ein Possenreißer oder verkappter Poet mit einer Begabung, "die Wirklichkeit so lange umzudichten, bis sie seinen Träumen entsprach" und den grotesk-absurden Wechselfällen eine fast chassidische Patina überzog, nimmt Jerome Seite für Seite die Gestalt des zentralen Lebensmenschen an, auch eines flüchtigen, der sich verschmitzt zu spiegeln beginnt, in Widersprüche verstrickt, doch selbst dort, wo er kaum fassbar wirkt, Brocken eines prallen Lebens auf das Erinnerungstablett legt. Mit aller Kraft, in Trance, unter Schlafentzug versucht das Ich, ihn über Monologe einzukreisen, zu halten, Autofahrten an die Küste und andere Episoden Revue passieren zu lassen, in steigender Angst, auch die Bilder würden ihr unwiederbringlich entgleiten. In alten Photos wühlt sie, hebt Unscheinbares, Verheimlichtes und Verdrängtes. Auf Spuren Anderer stößt sie, auf gleichgültig Namenlose, aber auch auf Rivalinnen wie ihre beste Freundin Louise oder auf Suleyma, den stets uneinholbaren Schatten. Was sie aber am stärksten erschüttert, ist die Entdeckung, im Testament gar nicht erwähnt zu sein, als hätte es keine gemeinsamen zwanzig oder gar fünfunddreißig Jahre gegeben und die Wiedersehen nach der Scheidung wäre nur part of a game gewesen.
Vermutetes wie Überraschendes legt sich in dieser Aufräumarbeit frei, taucht aus ungeordneten Schubläden, aus schwarzen Müllsäcken oder aus Gesprächen mit Bekannten auf, kartiert ihre Beziehung und zwingt das Ich zu verstörenden Zwischenbilanzen. Trotz vorbehaltloser Liebe kristallisiert sich die schmerzliche Einsicht heraus, dass seine Lebensgeschichte eigentlich nicht ihr gehört und auch sie am innigsten geliebt habe, "wenn wir getrennt waren", dass zum Einverständnis offenbar eine Art Zweckgemeinschaft im Missverstehen und eine Bereitschaft, Fehltritten großzügig nachzusehen, gehörte. Selbst ihre Zugehörigkeit, ihr einst sorgsam vorbereiteter Eintritt ins Jüdische, erscheint ihr zunehmend als geduldeter, unerwidert gebliebener Akt; die daraus erwachsende Ausgrenzung gräbt sich als berührende Schmerzspur in ihr Gedenken ein.
Je näher das Ich Jerome und dem zurückliegenden gemeinsamen Leben zu rücken scheint, Mosaiksteine in das offene Beziehungspuzzle einzufügen imstande ist, schlüssige Erinnerungsbrücken wie die Theaterleidenschaft von Vater und Tochter oder das gemeinsame Faible für klassische Musik aufzurufen vermag, desto schärfer treten Umrisse einer tieferen Vergeblichkeit, einer Delusion zu Tage. Gewissheit über diese Lebensbeziehung, über Jeromes Denken und Fühlen zu erlangen, gerinnt zu einem sisyphosähnlichen Unterfangen. Auch die erfühlte Einzigartigkeit ihrer Beziehung, so die schmerzhafte Wahrheit, hatte dem Trott, der Eintönigkeit und manchen Lebensnotlügen Tribut zu zollen, Tribut bis hin zur erschreckenden Einsicht, "wir standen einander nur mehr im Weg". Mit der Räumung des Souterrains und der Löschung des 1623 Seiten umfassenden e-mail-Briefverkehrs vollzieht sich schließlich symbolisch der Auszug aus dem einst gemeinsamen Lebensentwurf. Eine radikale Brechung der Vision eines anderen Zustands, dem abrupt der Boden unter den Füßen abhanden gekommen war. Vor der Rückkehr nach Europa dann noch eine letzte Kränkung in Gegenwart Ilanas: Kein Hinweis auf das Ich findet sich auf den Grabstein gemeißelt, der Kampf um Anerkennung ist mit diesem Abschiedsbesuch verloren.
Hat der Roman anfänglich das Projekt eines fürsorglichen Kaddisch, die Hommage einer Liebenden an eine bis zuletzt verteidigte und immer wieder eingekreiste, gleichwohl in (Selbst)Täuschungen verstrickte Lebensutopie zum Vorsatz, so muss am Ende der von Jerome hochgeschätzte Isaac Babel die Brücke zu den fehlenden Worten, zum abwesenden Du, zur Einsamkeit "unter der Glasglocke der Erinnerungen" herstellen. Sich an dieser Verknotung aus Hingabe und Unaufrichtigkeiten, am entrückten Glück wie am viel näheren Scheitern abzuarbeiten, sich vorbehaltlos einer Lebens- und Trennungsbilanz auszusetzen, die nicht zugunsten der Protagonistin aufgehen kann, zeugt von großer Reife. Trotzdem versteht sich der Text auch als Bekenntnis zum Leben, als Hommage an das Zusichkommen der Protagonistin im Lauf dieses schmerzhaft erkenntnisreichen Trauerjahrs. Ist Wenn du wiederkommst auch kein eingängiger Text, so doch einer der eindringlichsten der letzten Zeit, ein Buch, ja eine Komposition, in der eine außergewöhnliche Rhythmik der Sprache gleich "Wellen aus Licht und Farbe" durch die Fährnisse aus Trennung und Verlust, Ausgrenzung und Wiederfindung trägt und die Autorin auf einem riskanten Terrain im Wissen um hintergründige Nähen ihre Souveränität im "Erinnern und Erfinden" voll auszuspielen vermag.

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