Das Tortenprotokoll : Roman

Jungmaier, Marianne, 2015
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Medienart Buch
ISBN 978-3-218-00996-6
Verfasser Jungmaier, Marianne Wikipedia
Systematik DE - Erzählende Dichtung
Verlag Kremayr & Scheriau
Ort Wien
Jahr 2015
Umfang 202 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Marianne Jungmaier
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Doris Göldner;
Zum Begräbnis ihrer Großmutter kommt eine junge Frau, die in Berlin lebt, wieder in ihr Heimatdorf zurück. (DR)
"Großmutter ist tot" - diese grußlose E-mail erhält die Ich-Erzählerin Friederike von ihrer Mutter. Es ist Herbst, die trostlose Umgebung passt gut zur trüben Stimmung, in der die Frau die Reise zurück nach Hause antritt. Emotional belastet kommt sie in eine Situation, in der parallel zur Vorbereitung des Begräbnisses schon das Haus ausgeräumt wird und die Sachen der Verstorbenen verteilt werden. Friederike erhält das "Protokollheft" und findet zwischen den Tortenrezepten poetische Liebesbriefe eines Mannes an die Großmutter. Mit der Recherche nach dem Absender, die sie gemeinsam mit dem Jugendfreund Tobias unternimmt, vergeht die Zeit bis zum Begräbnis und der Abreise.
Der erste Roman der österreichischen Autorin Marianne Jungmaier ist ein sperriges Buch. Düster schildert sie die Zustände in einem Dorf und einer Familie. Laut Klappentext wollte sie "das österreichische Rezept, sich die Vergangenheit und deren Schmerz mit Torten und Tascherln vom Leib zu halten", darstellen. Viel von dem, was sie beschreibt, entspricht sicher den Erfahrungen vieler LeserInnen, die in irgendeiner Weise Bekanntschaft mit dem dörflichen Leben gemacht haben. Allerdings vermisst die Rezensentin die Wertschätzung für die beschriebenen Figuren schmerzlich. Sie schreibt, "[] so wie es in Großmutter angelegt war, verbittert zu sein" (S. 22), und zeigt uns nie die liebenswerte Frau, der die Liebesbriefe gegolten haben. Ein Satz lautet: "Schweigen ist ein Talent in dieser Familie [...]. Ich frage mich, was in ihren Köpfen vorgeht" (S. 47). Klarheit könnte sich die Ich-Erzählerin verschaffen, indem sie diese einfach persönlich frägt, solange sie noch leben; bevor es zu spät ist, wie bei der Großmutter.
Die soghafte Sprache soll die LeserInnen auf die Seite der Ich-Erzählerin ziehen, um durch ihre Augen zu sehen, wie eng, sprachlos und ohne Verständnis die Familie war. Inhaltlich ist aber eine andere Seite zu erkennen: Da liest man von heute unüblichen Freiheiten für Kinder und auch von der Möglichkeit, Zuneigung durch Tortenbacken auszudrücken. Ein sehr ambivalentes Buch! Allen, die neue österreichische Literatur kennenlernen möchten, empfohlen.

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Joe Rabl;
Zwei neue literarische Stimmen
Romane von Irmgard Fuchs und Marianne Jungmaier
Bei Kremayr & Scheriau, wo seit mehr als einem halben Jahrhundert Sachbücher verlegt werden, gibt es seit neuem auch eine kleine, feine Literaturschiene. Präsentiert werden sollen, wie es in einer Aussendung des Verlags hieß, österreichische Autorinnen und Autoren mit "ungewöhnlichen Sichtweisen auf die Welt". Irmgard Fuchs' Debüt löst diese Ankündigung zweifellos ein. Wir zerschneiden die Schwerkraft versammelt neun Erzählungen bzw. Prosatexte, die alle mehr oder weniger um denselben Themenkomplex kreisen: eine Art Standortbestimmung, eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger Lebensbedingungen. Die im Titel genannte Schwerkraft darf dabei als gesellschaftlicher Rahmen verstanden werden; die Schwerkraft steht für die Vorgaben und Erwartungen, mit denen sich die Generation der Zwanzig-, Dreißigjährigen herumzuschlagen hat.
Von Christine Nöstlinger stammt der schöne Satz: "Literatur ist, sehr simpel gesagt, ein Stück Welt, in Sprache umgesetzt." Die Welt in Irmgard Fuchs' Texten sieht eher düster aus: prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen, fehlende Perspektiven und abhandengekommene Gewissheiten; die Figuren treiben durch den Tag - einer so ereignislos wie der andere -, sind vollauf damit beschäftigt, "die Grenzen ihrer Sehnsüchte enger zu stecken" und sich dabei "nicht selbst aus den Augen zu verlieren". Auffällig oft entwickeln die Geschichten eine Dynamik des Verschwindens, mit zusehends enger werdenden Orten des Rückzugs, vom kleinen Zimmer über Höhlen und Koffer bis hin zum endgültigen Verschwinden. Ebenso oft öffnet sich der Blick in die Unendlichkeit des Weltraums, wie um sich aus größtmöglicher, relativierender Dis­tanz zu betrachten; aus nächster Nähe besehen mag es unerträglich sein, seinen Lebensunterhalt damit zu fristen, Kugelschreiber zusammenzubauen - vom Weltraum aus lässt sich dem vielleicht schon wieder Interessantes, zumindest Schräges abgewinnen.
Überhaupt ist es einer der Vorzüge dieser Texte, dass sie den Zumutungen des Lebens - den existenziellen Bedingungen im Allgemeinen und jenen der Generation Prekariat im Besonderen - so herrlich schräge Seiten abgewinnen. Manchmal nimmt das geradezu groteske Züge an, wie in "Burnout für Quereinsteiger" - um nur eine Erzählung herauszugreifen. Richard heißt der Icherzähler, der Starke und Reiche also, aber dieser Richard ist genau das Gegenteil. Er hat sich "in sich selbst hinein verrannt", mit seiner zu fünf Achteln fertigen Dissertation, mit der er wohl nie zu einem Ende kommen wird; auf dem Arbeitsamt kippt er angesichts von 1.800 Berufen, die er theoretisch ergreifen könnte, einfach um: sprichwörtlich begraben unter der Last der Optionen; seine Freundin ist auch weg und jetzt hat er sich für diesen Schnupperkurs in Burnout-Prophylaxe angemeldet und wir ahnen, dass auch das an seinen "psychosomatischen Überlastungserscheinungen" nichts ändern wird.
Irmgard Fuchs versteht es, von ernsten, traurigen, wenn nicht gar niederschmetternden Dingen so zu erzählen, dass man darüber lachen muss. Ungeachtet aller schrägen Überzeichnung wird sich so mancher Leser, so manche Leserin in seinen Ängsten, in ihren Zweifeln wiedererkennen, weil der Blick der Autorin ein genauer ist - und weil dieser Blick nichts und niemand der Lächerlichkeit preisgibt. Es ist ein befreiendes Lachen, das diese Texte auslösen, aber es relativiert nicht die Schärfe und die Gültigkeit ihrer Aussagen über den Zustand der beschriebenen Welt.
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Marianne Jungmaier hat bereits einen Prosa- und einen Lyrikband veröffentlicht (Die Farbe des Herbstholzes, Harlots im Herzen); mit Das Tortenprotokoll legt sie nun ihren ersten Roman vor. Darin schickt sie Friederike, die Ich­erzählerin, auf eine Reise in die eigene Vergangenheit; am Ende dieser Reise - am Ende des Romans - wird sie eine andere sein.
Das haben schon zahlreiche Autorinnen und Autoren so oder so ähnlich erzählt, aber Jungmaier gewinnt dem bewährten literarischen Muster ganz eigene, originelle Töne ab. 600 Kilometer hat Friederike zwischen sich und ihren Heimatort gelegt, eine Distanz, die ihr groß genug erschien, um ihr eigenes Leben leben zu können. Als die Großmutter stirbt (auch sie heißt Friederike), setzt sich die Enkelin ins Flugzeug und kehrt für das Begräbnis an den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurück. Was sie dort vorfindet, sind die mehr oder weniger bekannten Topoi der literarisch vermessenen österreichischen Provinz: die Enge des Dorfes; die Sprachlosigkeit seiner Bewohner; die rigide soziale Kontrolle, die jegliche Abweichung im Keim erstickt. Die Eltern haben sich auf ihre Art arrangiert, der Vater verschwindet im Bastelkeller, die Mutter verschanzt sich hinter ihrer Arbeit im Garten oder mit dem Putztuch im Haus. Gefühle, so scheint es, haben keinen Platz in diesem Leben - es sei denn, "in Form von Süßspeisen, Eiscremes und Desserts, aufgespießt auf Kuchengabeln, aufgefangen in Löffeln".
Jungmaier genügen wenige Sätze, um dieses bedrückende Umfeld in kleinen, atmosphärisch dichten Szenen auszuleuchten. Hier schickt man sich in das schei dd6 nbar Unvermeidliche, setzt das Zweckmäßige über das Lebendige, unterdrückt, was dagegen aufbegehrt - man schluckt es hinunter. Das von Generation zu Generation weitergegebene Rezept erfährt eine in ein schönes Bild gefasste Steigerung, als Friederike unter den hinterlassenen Dingen der Großmutter deren legendäres Tortenprotokoll findet und zwischen den Rezepten für Rosinengugelhupf und Eierlikörtorte plötzlich zarte Liebesbriefe herausflattern. Also hat die Großmutter, früh verwitwet, noch ein anderes Leben geführt, eines neben dem für alle sichtbaren und den Erwartungen entsprechenden.
Wenn nun nach und nach Licht auf die heimlich gelebte Liebe fällt, sieht sich Friederike gezwungen, ihr Bild von der Großmutter zu revidieren. Und indem sie das tut, bekommt auch ihr Bild von sich selbst Konturen, wird das, was sie dazu gebracht hat, 600 Kilometer zwischen sich und ihre Herkunft zu legen, konkret und anschaubar. Großmutter hat sich, wie so viele Generationen vor ihr, der sozialen Kontrolle gebeugt - Stichwort: Was werden die Leute dazu sagen? -, hat sich, um ihr Leben zu leben, in das scheinbar Unvermeidliche geschickt und es so nur halb gelebt. Friederike, die Enkelin, ist die Erste in der Familie, die diesen Kreislauf durchbricht; doch auch sie zahlt einen Preis dafür: Das Leben, das ganz ihres ist, kann sie nur anderswo leben.
Und wenn es noch einer Bestätigung bedurft hätte, dass dieser Aus- und Aufbruch aus der heimatlichen Enge und Sprachlosigkeit konsequent und richtig war, dass der Preis, den sie dafür zahlt, gering ist im Vergleich zu dem, was sie an Freiheit und Selbstbestimmung gewinnt, dann war genau
das der heimliche Zweck ihrer Reise - und der stimmige Spannungsbogen dieses überzeugenden Romandebüts. "Einmal noch war ich Teil von ihnen", heißt es am Schluss; und weiter, in abgeklärter, sich allem Neuen endgültig öffnender Diktion: "Nicht von Großmutter habe ich mich verabschiedet, sondern von einer Art, zu sein."
siehe auch: Irmgard Fuchs: Wir zerschneiden die Schwerkraft

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