Die Süße des Lebens : Roman

Hochgatterer, Paulus, 2006
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-06027-2
Verfasser Hochgatterer, Paulus Wikipedia
Systematik DE - Erzählende Dichtung
Verlag Deuticke
Ort Wien
Jahr 2006
Umfang 293 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Paulus Hochgatterer
Annotation Nichts Spannenderes als der Mensch Paulus Hochgatterer legt einen "Thriller" vor: Die Süße des Lebens Vielleicht ist es gut, vorneweg über die Erwartungen zu sprechen, die die Ankündigung eines neuen Romans von Paulus Hochgatterer auslösen: Hochgatterer ist in der österreichischen Gegenwartliteratur sicher der Schriftsteller, der am programmatischsten und radikalsten die allwissende Position des auktorialen Erzählers verweigert, mindestens versteckt (ich beziehe mich auf die letzten Erzählungen/Romane Wildwasser, 1997, Caretta, Caretta, 1999, Über Raben, 2002, und Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen, 2003): In teilweise äußerst mühsamer Kleinarbeit säubert Hochgatterer nach eigenem Zeugnis seine Prosa von allen Elementen des Kommentars, der Erklärung, der Zusammenhänge. Das Herzzerreißende der Dinge, die kreatürliche Ausgesetztheit des Menschen ist am sichtbarsten, bevor sich der Arzt mit Diagnose und Therapie daran macht, den Fall per Kategorisierung und Heilung hinter sich (hinter uns) zu bringen. Hochgatterer befreit seine Texte vom ganzen Apparat des Verstehens, der die Leiden und Wunden des Menschen in medizinischen, psychologischen, soziologischen oder ideologischen Kategorien aufgreift und in deren Fachsprache ablegt. Verstehen beschwichtigt. Der Autor vergegenwärtigt die Leiden in dem Status, in dem sie Leiden sind: begrifflos. Hochgatterer ist Jugendpsychiater. In einem Interview sagte er sinngemäß, dass er jeden neuen Patienten zunächst in seiner ganzen Neuheit, also außerhalb seines Fachwissens, aufzunehmen versuche, um den Kategorien und Rubriken des Bescheidwissens zu entkommen, die die Sicht auf die Verhältnisse durchaus verstellen können. Man kann diese schöne ärztliche Tugend auch als schöne poetische Tugend nehmen: dem Leser Zugang zum Menschen verschaffen, der nicht in den Fußstapfen des Autors oder einer anderen besserwisserischen Instanz erfolgt. Phänomene bleiben neu nur ohne Erklärung. Erklärungen sind immer alt, insofern sie das Phänomen in einer endlichen Menge von Erklärungssystemen aufheben. Und die Erschaffung seiner Neuheit, mag das Phänomen in unserem Wissen noch so alt sein, ist schließlich Rechtfertigung, Vermögen und Sieg der poetischen Literatur. Hochgatterers Menschen sind meist Jugendliche in den aberwitzigen Verhaltensverrenkungen, die ihnen von einer Psyche aufgenötigt werden, welche den Überlebenskampf um vorenthaltene Liebe (Glück) in allen Formen und in aller Unbedingtheit führt, also Fälle für den Psychiater. Aber sie sind aus solcher Nähe beschrieben (oft in Ich-Form), dass die Überlegenheit des Psychiaters ausgeblendet und nutzlos bleibt. Gerade dadurch, dass diesen phänomenologischen Porträts in der Beschreibung der (harten, rauen) Oberfläche Erklärungen und Zusammenhänge entzogen bleiben, beginnt das Weiche, Zarte unter der Oberfläche wie von selbst zu beben (statt vom Autor wörtlich klargemacht zu werden). Eine Poetik der Barmherzigkeit ist das, insofern die Wirklichkeit des Leidens eben deswegen im ganzen Ausmaß erlebbar wird, weil sie völlig freigehalten wird von Reflexion, vom Krankheits- oder gar vom Moralbegriff, die die Fakten durch Einordnung in ein Orientierungssystem nur ruhigstellen würden. Hochgatterer ist Moralist durch Moralverweigerung. Man bekommt den Eindruck, dass solche Porträts alles enthalten, was Wirklichkeit zu vergeben hat; man muss sich also nicht begnügen mit dem Bisschen, das jemand (der Autor) zur Wirklichkeit zu sagen hat. Gezielt und hartnäckig setzt Hochgatterer Sprache ein, um etwas mitzuteilen, das sie nicht benennt. Diese Einleitung zielt trotz ihrer Länge und Allgemeinheit auf Hochgatterers neuen Roman Die Süße des Lebens, insoferne sie auch dessen Hauptqualitäten beschreibt. Es gibt allerdings auch erhebliche Unterschiede zu seinen letzten Büchern. Erstens bietet sich der Roman dem Leser als Kriminalroman an: Es gibt den Mord am Anfang, die Recherchetätigkeit des Kriminalkommissars und am Schluss den Täter. Zweitens nimmt sich Hochgatterer mehr Raum als sonst für auktoriales Erzählen, also für den Draufblick auf Weltausschnitte und ihre Zusammenhänge. In einer österreichischen Kleinstadt (Furth) wird einem alten Mann der Kopf zu Brei geschlagen, werden einem Kind vorsätzlich die Beine so zugerichtet, dass sie amputiert werden müssen, Katzen, Hunde, Enten werden von Unbekannten reihenweise umgebracht. Beruflich beschäftigt damit sind ein Kommissar (Ludwig Kovacs) und ein Psychiater (Dr. Horn). In alternierenden Kapiteln "besucht" der Erzähler außer Kovacs und Dr. Horn noch den Jugendlichen Björn, der von seinem psychopathischen und kriminellen Bruder Daniel in einer "Star Wars"-Welt gefangengehalten wird, und zwar als Auftragsempfänger des "Imperators"; und den Ordensgeistlichen und Mathematiklehrer Joseph Bauer, der unter der ständigen Empfindung lebt auseinanderzubrechen und glaubt, dass Bob Dylan der Erlöser ist. Björn und Bauer rückt der Autor auf die beschriebene Weise so zentimeternahe an den Leib, dass wir in ihren geschlossenen Welten ausgesetzt werden, ohne das Instrumentarium mitzubekommen, uns diese Welten als "kranke" auf Distanz zu halten. So ist es wohl immer bei Hochgatterer: Das sogenannte psychopathische Verhalten hat alles zu tun mit dem sogenannten gesunden; der Überlebenskampf dort ist Modellkampf für hier. Die Björn-Kapitel sind in Ich-Form geschrieben, die Bauer-Kapitel in ich-naher Er-Form. Für die "normalen" Welten des Kommissars und des Psychiaters nimmt der Autor auktoriale Erzählhaltung ein. Hier gibt es eine Welt mit den üblichen Zusammenhängen, mit Frau und Kind, mit Freundin, Beziehungsproblemen, Berufsalltag, mit Unzulänglichkeiten und Erinnerungen; äußerst einfühlsam und umsichtig erzählt. Wir werden integriert, nicht ausgesetzt. Kovacs und Dr. Horn sind einander ein bisschen ähnlich: eher melancholisch, mit Hang zur Misanthropie, streunend betrachtsam, undepressiv/unaggressiv zweiflerisch. Ihre Berufe völlig unheroisch. Die Geschichte wird in die Breite ihrer Figuren erzählt (in der Praxis des Dr. Horn lernen wir noch eine Reihe anderer Lokalfälle kennen), in hoher Authentizität zu einer Art psychogrammatischen Panoramas einer österreichischen Kleinstadt. Der Vorwärtsdrang der Kriminalhandlung wird hintangestellt. Wenn man das Buch als Kriminalroman liest, spießt sich's allerdings ein bisschen. Die kriminalistische Aufklärung des Mords an dem alten Mann wird zwar nur beiläufig, aber doch beharrlich betrieben. Das Buch endet krimikonform mit der Entlarvung des Täters. Diesem Genre-Muster bzw. den Erwartungen, die es erweckt, entkommt der Leser nicht leicht. Die eindrucksvolle Menschendarstellung Hochgatterers verträgt die zusätzliche kriminalistische Ausrichtung nicht immer gut. Es schmerzt ein wenig, wenn die hochauthentisch porträtierten Figuren Björn, Daniel, Bauer

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