Die Welt im Selfie : eine Besichtigung des touristischen Zeitalters

D'Eramo, Marco, 2018
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Medienart Buch
ISBN 978-3-518-42809-2
Verfasser D'Eramo, Marco Wikipedia
Beteiligte Personen Kempter, Martina Wikipedia
Systematik EB - Bevölkerungs-,Sozial- u.Humangeographie
Schlagworte Tourismus, Wandel, touristisches zeitalter, Weltreisende, Selfies, Massentourismus
Verlag Suhrkamp
Ort Berlin
Jahr 2018
Umfang S. 362
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Marco D'Eramo. Aus dem Ital. von Martina Kempter
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Ingrid Kainzner;
Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters. Analyse des Tourismus als eines Phänomens, das sich selbst ad absurdum führt. (EL)
Schon seit dem Ende des 16. Jahrhunderts begaben sich die Sprösslinge aus adeligen Familien auf die obligate Bildungsreise. Aber erst im 19. Jahrhundert eröffneten die technischen Errungenschaften und der Aufstieg des Bürgertums breiteren Bevölkerungskreisen die Möglichkeit des Reisens. Seither hat der Massentourismus ein Ausmaß angenommen, das nicht nur die Umwelt zerstört, sondern auch seine eigenen Grundlagen sukzessive minimiert. Denn die Anreize für das Reisen, die Sehnsucht nach unberührten Landschaften und "authentischen" Einheimischen, das gibt es kaum noch bzw. nur als Inszenierung. Was die Städte betrifft, so bezeichnet d'Eramo auch das hehre Etikett "Weltkulturerbe" als gut gemeinten Städtemord. Wenn alles "historisch" bleiben muss, dann verliert eine Stadt ihre Lebendigkeit und wird zum Themenpark. Die Kritik am Tourismus ist nicht neu, schon 1871 schrieb der englische Geistliche Robert Kilvert in sein Tagebuch: "Wenn mir etwas ganz besonders zuwider ist, dann, wenn man gesagt bekommt, was man bewundern soll, und mit dem Zeigestock darauf gestoßen wird. So ist von allen Schädlingen der Tourist der schädlichste." Die Schmähung des Touristen ist bis heute eine Konstante und wird auch von diesen selbst hingebungsvoll betrieben denn "die Touristen finden immer jemanden, der mehr Tourist ist als sie selber und den sie verachten können. Die Gruppen von Amerikanern im Reisebus fühlen sich den Gruppen von Japanern überlegen, die aussehen, als trügen sie Uniformen und überdies bestimmt nichts von der Kultur verstehen, die sie in einem fort knipsen... Sobald man anerkennt, dass es zum Tourist-Sein dazugehört, dass man sich von den anderen abheben will, kann man auch die Oberflächlichkeit der meisten Diskussionen über den Tourismus erkennen, speziell derjenigen, die sich über die Oberflächlichkeit der Touristen mokieren."
So klar d'Eramo die katastrophalen Folgen des Massentourismus benennt, so wenig stimmt er in das weit verbreitete Touristen-Bashing ein, sondern zeigt im Gegenteil Empathie, beispielsweise für den oft belächelten Bildungsbürger: "Es liegt etwas Rührendes in der Zuversicht, der Besuch einer Stadt, eines Bauwerks, eines Landes könne uns geistig bereichern, uns besser machen: Auch auf diesem Terrain spielt sich die Aufholjagd der Klassen ab, laufen die Beherrschten den Herrschenden hinterher." Als ein an Bourdieu und Lévi-Strauss geschulter Autor, behandelt d'Eramo sein Thema nicht isoliert sondern stellt es in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext. Das macht die, übrigens voller Eleganz und Esprit verfasste "Welt im Selfie" zu einer anspruchsvollen und zugleich sehr anregenden Lektüre.

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Quelle: Pool Feuilleton;
Wo Tourismus ist, gibt es auch das Tourismus-Bashing. Das hat damit zu tun, dass alle verunsichert sind, wie sie über ein Phänomen diskutieren sollen, das als Industrie die Ausmaße eines Zeitalters erreicht hat. Jeder mit schlechtem Gewissen findet zumindest immer einen, der noch schlechteren Tourismus betreibt.
Marco d'Eramo geht den Tourismus historisch-philosophisch an und erklärt dadurch, warum wir alle diesen Tourismus auszuhalten haben, der uns alle umspült. Als leidgeplagter Römer kann der Autor journalistische Beigaben in das Handbuch einstreuen, die so manche philosophische Erkenntnis auf den Endverbraucher herunterbrechen. Im Tourismus ist nämlich jeder Endverbraucher, mal als Reisender, als Personal oder als Arbeitsmigrant.
In italienischen Städten werden die wirklich raren und guten Dinge unter Verschluss gehalten. Immer wieder geben sich Einheimische Tipps weiter mit der Beschwörung: Aber ja nicht den Touristen verraten!
Wenn etwas ins Unermessliche explodiert ist wie die Zahlen von Übernachtungen, Tagesgästen oder Kreuzfahrtankünften, dann kann man es nur mehr sarkastisch kommentieren. Das alles passiert nur, weil jeder ein Selfie von jedem Ort der Welt machen muss. Die Vorstufe für das Selfie war die Malerstaffelei, für ein "pittoreskes" Erlebnis sind seinerzeit ganze Generationen von Müßiggängern herumgezogen und haben schöne Bilder gemacht. Die Adeligen sind gleichzeitig in den Bäder-Orten herumlaviert und haben etwa wie die russischen Romantiker Vorläufer der Wellness-Kultur entwickelt.
Mark Twain hat seinerzeit die sarkastische Empfehlung abgegeben, bei Reisen möglichst auch Hinrichtungen beizuwohnen, so ließen sich Land und Leute am besten erkunden. Tourismus braucht vor allem Inszenierung, so müssen Traditionen für echt erklärt und in entsprechender Kleidung aufgeführt werden, damit die Touristen etwas vor das Smartphone kriegen. Aus diesem Geist heraus sind überall Festivals eingerichtet, die der Profi von Edinburgh über Avignon und Verona abklappern muss. Die Chinesen kupfern diese Festivals gleich mit Drohnen ab und bauen zu Hause die passenden Gegenstädte. Und nicht zu vergessen Las Vegas, eine Inszenierung von Hotels, Spielbetrieb und klassischen Motiven vor der Rampe bis hin zum echten Massaker.
Die Städte sind längst touristische Zonen geworden, die sich an die städtebauliche Empfehlung von Le Corbusier halten und die Felder wohnen, arbeiten, Freizeit und Verkehr möglichst getrennt bedienen. (179) Die Ausrufung zum Weltkultur-Erbe erledigt den Rest.
Ununterbrochen wird nachjustiert, der Tourismus hat sich längst spezialisiert in Senioren-, Sport-, Gesundheits- oder Pilgertourismus. Das Individuum hat Mühe, sich darin zurechtzufinden, weshalb die touristische Beschallung rund um die Uhr und während des ganzen Jahres erfolgen muss. Das Individuum darf, zumindest bis gebucht ist, nicht zur Ruhe und zum Nachdenken kommen.
Das Fließband, das in der produzierenden Industrie mittlerweile von Robotern beschickt wird, muss im Tourismus noch mit scheinbar lebenden Menschen bestückt werden.
Die Welt im Selfie ist eine tiefgründige Analyse des Tourismus. - Gerade für die Tiroler ein Pflichtbuch, denn diese arbeiten gerüchtehalber schon an Touri-Robotern, die in Einzelteilen im Hotel angeliefert und dort unter Lohndumping zu Touristen zusammengesetzt werden, um die Kosten der Anlieferung zu minimieren.
Helmuth Schönauer

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